John Neumeier: Anna Karenina, Hamburg Ballett, 2.7.2017
Da vorn tanzt Emmanuel Macron, nein, stop, so explizit politisch ist John Neumeier als Choreograf nicht, auch nicht in seiner Ballettbearbeitung von Tolstois Ehebruchsroman „Anna Karenina“ – oder? Es ist zumindest so, dass Alexej Karenin bei Ivan Urban ein Politiker ist, jung, energiegeladen, durchsetzungsstark, hypermaskulin, im Wahlkampf produziert so jemand harmonische Familienbilder mit Frau und Kind, Bilder zu denen streng gelächelt und exakt getanzt wird, während das Orchester Tschaikowsky spielt, und natürlich kann Gattin Anna (Anna Laudere) da nicht anders als aus dieser Strenge ausbrechen, sich dem Grafen Wronski (Edvin Revazov) an die Brust zu werfen; worauf es rauer zugeht und der Score zu Alfred Schnittke wechselt. Auch Sex, klar, wie oft bei Neumeier hochglanzdessouswerbungshaft, aber, hey. Gut geht das natürlich nicht aus, Anna bringt sich (in einem tänzerisch tatsächlich atemberaubenden Finale) um, das ist bei Tolstoi ein wenig moralinsauer, und es hilft wenig, dass Neumeier mit dem Parallelpaar Kitty (Emilie Mazoń) und Lewin (Aleix Martinez) eine Ausbruchsalternative anbietet, die der durchgetakteten Realitätsinszenierung die rurale Authentizitätsbehauptung des Landlebens gegenüberstellt. Wobei, auf dem Land geht die Sonne gülden auf, die Bauernschar tanzt herzerwärmend um ihre Sensen, Cat Stevens singt „Morning has broken“, und man fragt sich, ob Neumeier, dieser große, alte Mann des neoklassischen Handlungsballetts, womöglich viel böser, viel ironischer ist als man es je gedacht hätte und die macroneske Politik-Welt des Beginns mit naturburschenhaftem Camp kontrastiert?